Woche 2 - Einlassen

12. Tag  - Mittwoch, 30.05.2018

 

Oben und Unten

Nach einer entspannten Nacht in Rottweil starten wir nach dem Frühstück voller Tatendrang in den neuen Pilgertag. Jedoch etwas anders als sonst, denn direkt gegenüber unserer Jugendherberge läuten um kurz vor 9 Uhr die Glocken: Im Münster findet ein Gottesdienst statt, den wir uns nicht entgehen lassen wollen. Als wir die Tür der Kirche öffnen, verschlägt uns die Schönheit des frisch renovierten Gotteshauses den Atem und wir kommen aus dem Staunen nicht mehr heraus. Wir lassen uns anstrahlen vom Licht der Morgensonne, welches uns durch die Fenster im Altarraum entgegen flutet – unweigerlich kommt uns der Vers aus dem Benediktus in den Sinn: „Durch die barmherzige Liebe unseres Gottes wird uns besuchen das aufstrahlende Licht aus der Höhe, um allen zu leuchten, die in Finsternis sitzen und im Schatten des Todes und unsere Schritte zu lenken auf den Weg des Friedens.“

Derart eingestimmt durch dieses perfekte Setting freuen wir uns an der feierlichen Messe, in der wir als Pilgergruppe eigens begrüßt werden – Pfarrer Rieger hatte unsere Gruppe schon gestern Abend in einer Pizzeria entdeckt und war natürlich neugierig, wohin wir wohl unterwegs seien. Nach dem Gottesdienst kommen wir mit ihm ins Gespräch, er gibt uns einen extra Reisesegen und bittet gleichzeitig um unser Gebet, was wir ihm natürlich gerne versprechen.

Etwas später als sonst treffen wir uns daraufhin zu unserer Einstiegsrunde und begrüßen Walburga aus dem Kinzigtal in unserer Mitte, die in den kommenden Tagen mit uns unterwegs sein will. Wie jeden Morgen sammeln wir unsere Anliegen: Wir beten für eine Freundin von Martin, die sich heute einer schweren Operation unterziehen muss und für eine „Pilger-Schwester“, die mit einer Krebserkrankung kämpft; wir beten für eine Frau, der ein Umzug ins Altenheim bevorsteht; wir beten für Menschen, die mit Beziehungsabbrüchen umzugehen haben; Daniel betet für „seine“ Beterin Sr. Maria Ancilla; Mareike bitte uns, für eine 17jährige junge Frau zu beten, die in den vergangenen Tagen einem Krebsleiden erlag und ihre Familie und Freunde; und manche von uns möchten am heutigen Tag auch für ihre eigenen Anliegen laufen. Alles, was in unserer Mitte lebendig ist, legen wir in unser Pilgergebet und machen uns bei strahlendem Sonnenschein auf den Weg.

Wie schon gestern steht zunächst der unübersehbare Thyssen-Krupp-Testturm im Mittelpunkt unserer Wanderung – diesmal umkreisen wir ihn fast ganz und denken dabei an das Gedicht von Rainer Maria Rilke „Ich kreise um Gott, um den uralten Turm und ich weiß noch nicht: bin ich ein Falke, ein Sturm oder ein großer Gesang.“

Als wir die Stadt verlassen und am Neckar angekommen sind, gibt Sr. M. Ursula uns einen ersten Impuls zum heutigen Tagesevangelium (Mk 10, 32-45). Die dort beschriebene Situation ist an Peinlichkeit nicht zu überbieten: Jesus versucht, die Jünger in das Geheimnis seiner Entäußerung einzuweihen, und Jakobus und Johannes nähern sich ihm mit der Bitte, in seinem Reich links und rechts von ihm sitzen zu dürfen. Doch nicht nur das: Die anderen zehn Jünger sind stinksauer über die Unverschämtheit der Beiden, was ja zeigt, dass sie im Grunde ebenso gerne „da oben“ sitzen würden. Am Ende ruft Jesus sie alle zu sich und weist sie ebenso liebevoll wie deutlich darauf hin, wie Herrschaft im Reich Gottes aussieht: Ihr wisst, dass die, die als Herrscher gelten ihre Völker unterdrücken und die Mächtigen ihre Macht über die Menschen missbrauchen. Bei euch aber soll es nicht so sein, sondern wer bei euch groß sein will, soll euer Diener sein, und wer bei euch der Erste sein will, soll der Sklave aller sein. Auf der kommenden Wegstrecke gehen wir in die Stille und schauen auf unser eigenes Leben: Wo finde ich mich in dieser Geschichte wieder? Wo habe ich vielleicht Angst zu kurz zu kommen? Was hindert mich daran, in Freiheit den Weg der Liebe zu gehen?

Nach einer beeindruckend schönen Wanderung durch das Neckartal (auch „unten“ kann es paradiesisch schön sein!!) kommen wir am Ende des Vormittags am Hofgut Neckarburg an, wo Sr. M. Johanna bereits für unser leibliches Wohl vorgesorgt hat. Wir lachen: Das Hofgut ist ein Ponyhof, an dem wir so viele glückliche Kinder erleben, dass uns sofort das Herz aufgeht. Natürlich wollen sie uns zeigen, was sie in ihren Reiterferien schon alles gelernt haben, und Sr. M. Johanna darf auf einer Tribüne „von oben“ ihr Können bestaunen. Wieder sind wir begeistert über die Gastfreundschaft und die Freundlichkeit der Bewohner des Hofes und freuen uns riesig, dass wir sogar mit einer Tasse heißem Kaffee verwöhnt werden. So paradiesisch es an diesem Ort auch ist, 45 Minuten später gilt es für uns wieder aufzubrechen.

Dabei dürfen wir eindrucksvoll erleben, wie die „heilende Liebe“ einen Menschen zu verwandeln mag. Eine unserer Mitpilgerinnen, die am Morgen noch mit einer großen Schwere im Herzen aufgebrochen war, beginnt auf einmal im Laufe des Nachmittags ganz befreit voranzuschreiten und droht uns allen davon zu laufen – ohne dass sie selbst es zunächst wahrnimmt. Wir staunen über ihren schnellen Schritt, und sie staunt nach unserer Ankunft in Epfendorf selbst darüber, mit welcher Leichtigkeit sie plötzlich unterwegs sein durfte. Und nun sind wir hier im „Blauen Haus“ angekommen, der Ferienwohnung von Familie Imhof, die wir für heute gebucht haben. Es ist schwer zu sagen, wer sich hier mehr über wen freut: Frau Imhof über unsere Pilgergruppe, oder unsere Pilgergruppe über Frau Imhof. Auf jeden Fall ist es gegenseitige Liebe auf den ersten Blick, und wir freuen uns schon sehr auf das gemeinsame groß angekündigte Z’mörgele bevor wir morgen wieder zu neuen Ufern aufbrechen werden. 

Zum Wetter: Sr. M. Ursula verkündet heute – ohne ihre Wetter-App, da diese ja schweigen soll – mit Blick zum Himmel baldigen Regen. Die Gesamtleitung, die aufgrund aller nicht eingetroffenen Wettervorhersagen nichts mehr auf solche Prophezeiungen gibt, legt ihr nahe, auch selbst einmal zu schweigen. Das wird tut sie dann auch.

Morgen machen wir uns auf den Weg mit Moses, dem Stotterer, der zwar zu Großem berufen ist, aber dennoch nicht richtig sprechen kann: Mose sagte zum Herrn: Aber bitte Herr, ich bin keiner, der gut reden kann, weder gestern noch vorgestern, noch seitdem du mit deinem Knecht sprichst. Mein Mund und meine Zunge sind nämlich schwerfällig. (Ex 40,10)

Bei euch aber soll es nicht so sein....

Mk 10