Woche 5 - Ankommen

32. Tag - Dienstag, 19.06.2018

Trotzdem

Der Tag beginnt mit einer kleinen Enttäuschung: heute gibt es keine neuen Pilger und die Kirche, in der wir unser Pilgergebet sprechen wollen, ist noch geschlossen.
Also sammeln wir die Anliegen für den heutigen Tag im Freien und nehmen sie mit hinein ins gemeinsame Anfangsgebet. Wir beten und wollen pilgern für verschiedene Anliegen und Personen. Eine davon ist Adalbert, der geliebte Bruder von Agnes (Pilgerin der Vorwoche), der mit lebensbedrohlicher Erkrankung in der Klinik liegt.
Eine andere Frau bittet uns, für ihren Bruder und dessen Frau zu pilgern, die seit Jahren im Streit leben, der sich immer mehr zuspitzt. „Möge Gott ihre Herzen berühren“, schreibt sie in ihrer Email, „dass sie sich am Ende eines langen Weges im Frieden trennen können und das Vertrauen ins Leben nicht verlieren.“
Uns kommt die eindrückliche Skulptur in den Sinn, die wir gestern beim Tagesabschluss im Friedhof von Glashütten entdeckten: ein Mann und eine Frau, die sich von Herzen zugetan sind. Wir wollen heute auch Paare mitnehmen, die es schwer mit der Kirche haben, weil sie wiederverheiratet sind.



Eine kleine Enttäuschung hält der Tag auch für unsere (Langzeit-)Pilgerin Walburga bereit: wir werden heute auf dem Weg nach Hennetal tendenziell bergab wandern. Walburga liebt es mehr, bergauf zu gehen. Es soll doch nun im Leben aufwärts gehen. Außerdem kann man beim Ansteigen die Emotionen besser rauslaufen und in der zweiten Lebenshälfte, wo körperlich alles immer mehr nach unten zieht, braucht es erst recht eine Aufwärtsbewegung.
Für unseren Impuls am Vormittag finden wir einen lichten Platz im Wald. Licht tut gut, wenn man sich mit so einem so schwierigen Thema herumschlägt. Heute geht es nämlich weiter um die Feindesliebe. Die Bergpredigt bzw. Jesus empfiehlt: Dem Feind Gutes zu tun, für ihn zu beten und ihn zu segnen. Wie soll das denn bitte gehen?! Wir hören eine Auslegung von Anselm Grün (Buchtipp: „Wege der Verwandlung. Emotionen als Kraftquelle entdecken und seelische Verletzungen heilen“) und fühlen uns gleich getröstet, wenn er schreibt: „Du musst es nicht fertigbringen. Aber du kannst es probieren.“
Wir versuchen es mit zwei Übungen, mit denen Pater Anselm in seinen Kursen hilfreiche Erfahrungen gemacht hat. Wer will, kann sich im Wald einen guten Ort suchen, dort beide Arme ausstrecken und den „Feind“, die Person, die spontan in den Sinn kommt, damit auf Distanz halten oder, wenn es sich stimmig anfühlt, ihn sogar segnen.
Wer damit kämpft, sich selbst Feind zu sein, wird eingeladen, sich zu umarmen. Wir lassen uns auch inspirieren von Mutter Teresa, die aus der Kraft des „Trotzdem“ lebte und sagen konnte: „Gib der Welt das Beste, was du hast, und du wirst zum Dank dafür einen Tritt erhalten. Gib der Welt trotzdem das Beste.“
Und wir lassen auch wieder Mutter M. Cherubine zu Wort kommen, die eine Feindin von sogenannten „Anträgereien“ war. Wenn eine Schwester sich bei ihr über eine Mitschwester beschwerte, wurde die Klagende gefragt: „Haben Sie die Schwester auch in Liebe schon aufmerksam gemacht?“
Mitpilger Christian Dupke, der für heute und morgen die Gesamtleitung unserer Pilgergruppe übernommen hat, weil Bernhard Grunau wichtige Termine in Arenberg wahrnehmen muss, möchte sich auf dem weiteren Weg gerne überlegen, was dies für ihn im richtigen Leben, im Berufsalltag bedeutet. Als Pflegedienstleiter im Vincenzhaus in Oberhausen, einer Einrichtung der Arenberger Dominikanerinnen, ist er froh, dass die dortigen Schwestern gerne zu ihm kommen und ihm in großem Vertrauen ihr Herz ausschütten.
Wir sind schon gewohnt, nach dem Impuls eine längere Zeit schweigend zu gehen, um diesen nachklingen und nachwirken zu lassen oder um in Stille für die Anliegen des Tages zu beten.
Da treffen wir auf Rosemarie und Paul, die wissen wollen, was es mit unsrer Gruppe auf sich hat, zu welchem „Verein“ wir gehören und warum wir anscheinend böse miteinander sind, weil wir nicht miteinander reden und in großen Abständen gehen.
Nein, wir sind nicht böse, sondern gesammelt, geben den Prozessen Raum, welche die Bergpredigt bei uns auslöst. Rosemarie und Paul sind sehr erfreut, das Pilgerarmband zu bekommen und nehmen gerne unser Kreuz in ihre Mitte. Offen sprechen die beiden über ihr eigenes Kreuz, über ihre Krankheiten. Rosemarie hat eine OP hinter sich und trainiert nun mit ihrem lieben Mann gegen die Versteifung des Rückens. Deshalb sind sie unterwegs. Ja, seit 55 Jahren sind sie schon als Ehepaar unterwegs, erzählen sie, und wie schön es war, als sie anlässlich des goldenen Ehejubiläums zu einer Messe in den Limburger Dom eingeladen worden waren.
Sie wünschen uns Gottes Segen und auch wir segnen die beiden. Und Sie rufen uns im Weitergehen noch zu: „Das ist ganz lieb!“



Bevor wir unsere Mittagsrast in Idstein erreichen, werden wir von einem Lindenhain gestoppt. Nein, hier steht nicht eine einzelne Linde, es ist auch keine Lindenallee, sondern ein ganzer Wald mit Lindenbäumen. „Hört ihr ́s?“, fragt Klaus, unser Streckenführer, und lädt uns zum Verweilen ein. Hatten wir zunächst (nur) den betörenden Geruch dieser Lindenwucht wahrgenommen, spitzen wir nun auch die Ohren. Je intensiver wir hören, umso ohrenbetäubender wird das Geräusch, nein nicht der Blätter, sondern der Bienen. „Dass es so was noch gibt!“, sagt Inge entzückt. „Möge es solche Orte noch ganz lange geben!“
Franz, mit 15 Jahren unser jüngster Pilger, versucht mit seinem Handy das Spektakel aufzunehmen und wünscht sich, dass Pflanzenschutzmittel entwickelt werden, welche den Bienen nichts antun. Er kann sich von diesem magischen Ort kaum trennen.



In Idstein beeindrucken uns die malerischen Hausfassaden. Eine wirklich idyllische Stadt, in der man gerne länger bleiben möchte. Ein Mann will wissen: „Woher kommt ihr, wohin geht ihr?“ – „Von der Schweiz nach Koblenz.“ – „Dann seid ihr hier ganz richtig.“

Am Ortsrand von Idstein halten wir in der ev. Liebfrauenkirche, der „ältesten Kirche im Raume Idstein“, einen weiteren Impuls zu unserem Tagesevangelium. Obwohl wir vorher Kaffee getrunken haben und sich der Impulsgeber redlich bemüht, bemächtigt sich der Gruppe eine große Müdigkeit. Vielleicht liegt es an dem drückenden, schwülen Wetter, den Anstrengungen des gestrigen Aufstiegs, am Schlafmangel oder auch weil wir schon genug zu tun haben, die Impulse und Prozesse des Vormittags zu verdauen.
Jedenfalls tut es gut, nun wieder in Bewegung zu kommen. Wir gehen durch den grünen Taunus, weiterhin dem Fernwanderweg E 1 folgend, ohne einem Menschen zu begegnen.
Was für ein Privileg, an einem ordinären Dienstag mit einer, nein mit dieser Pilgergruppe in herrlicher Waldlandschaft unterwegs sein zu dürfen! Am Friedhof in Strinz-Margarethä, unserem Etappenziel, werden wir Zeugen tierischer Gewalt. Wir müssen mit ansehen, wie eine Katze einen kleinen Vogel verletzt und diesen dann in einer Art Spiel immer wieder quälen will. Es ist schwer, nicht wirklich eingreifen zu können, diese für unsere Augen Brutalität aushalten zu müssen.
Wir sind wieder voll im Thema und gestehen uns in der abschließenden Runde ein oder deuten an, mit welchem Feind wir auf der heutigen Etappe schwanger gegangen sind. Und dass da noch viel zu tun bleibt.
Bevor wir morgen eine weitere Etappe mit der Bergpredigt gehen, in der es darum geht, Gutes zu tun im Verborgenen (Mt 6,1ff.), genießen wir in unserer Unterkunft hessische Spezialitäten: Tafelspitz mit grüner Soße und Ebbelwei.
Walburga blickt auf einen „fantastischen Tag“ zurück – es fehlt nur ihre „linke Hälfte“.

Gib der Welt das Beste, was du hast ...

Mutter Teresa