Kloster auf Zeit

„Wenn du mich kennen willst, frag nicht, wo ich lebe;
oder was ich gern esse;
oder wie ich mein Haar kämme; sondern frag mich,
wofür ich lebe, genau im einzelnen,
und frag mich, was nach meiner Meinung
mich davon abhält,
völlig die Sache zu leben,
für die ich leben will.“

Thomas Merton

Wer bin ich? Wofür lebe ich? Was hält mich, wenn alles wegbricht? Was ist das Bleibende, das wirklich Bleibende in Erfahrungen von Verlust und fragmentarischem Leben, in der Konfrontation mit dem Tod. Fragen, die jede und jeden bedrängen - in sensiblen Augenblicken mitten im Gewöhnlichen, im Dunkel des Unbegreiflichen... im Schmerz ... gerade auch in der Absurdität des Erfolgswahns unserer Zeit. Und wo sind die Räume zu finden, die dafür wie geschaffen sind, den inneren Lebensimpulsen nachzuhorchen und der ureigenen, unverwechselbaren Lebensbestimmung nahe zu kommen. Wo gibt es sie, jene Wegstrecken, auf denen gesunde Lebensrhythmen neu ein-geübt werden können, wo Verlangsamung und Innehalten bedeutsam sind und das Suchen und Fragen des Herzens, wo Zweifel zugelassen werden können? Wo, wenn nicht in einem Kloster! Es kann heilsam sein, eine Zeit den Alltag zurückzulassen und einzutreten in diese vielleicht fremde Welt eines Klosters und sich einladen zu lassen von einem Rhythmus, der scheinbar erst gegen den eigenen schlägt. Das frühe Aufstehen kann Mühe bereiten, auch die oft schon früh beginnende Nachtruhe. Der Tag, der umfangen ist vom Gebet. Immer mehr Menschen suchen solche Orte, die geprägt sind von einer klösterlichen Atmosphäre. Von Stille und Gebet. Von Zeiten des Gesprächs und vom Alleinseinkönnen. Vom gesunden Wechsel von Arbeit und Muße. Bei dieser besonderen Gestaltung einer Auszeit geht es nicht zuerst um den Eintritt in eine Ordensgemeinschaft, wohl aber um die tiefere Entdeckung der eigenen sinnstiftenden Lebensaufgabe. Solche Tage der Stille laden ein, die Schwingungen der inneren Sehnsucht in einem geschützten Raum wahrzunehmen und das sonst im Alltagsgewühle Unerhörte und Überhörte neu zu erlauschen. Sie sind Lernort, das Vernommene im Herzen zu bewegen, es umzusetzen und zu leben. Es ist die einzigartige Möglichkeit, sich selbst neu zu begegnen. Und Gott. Die Mithilfe bei den täglichen Verrichtungen lehrt - die Arbeitszeit wird jeweils vor oder bei Beginn der Klosterzeit festgelegt -‚ das, was getan werden muss, ganz zu tun, aufmerksam zu bleiben und sich einzusammeln auf das Hier und Jetzt des jeweiligen Augenblicks. Und gegenwärtig zu sein, Geistesgegenwärtig. Ich muss mich nicht ständig irgendwohin denken, Gott sei Dank keine Ergebnisse vorweisen, die den Charakter einer Leistung tragen. Ich lasse mich ein auf das Gegebene, schmiege mich ihm an, wie es der hl. Benedikt einmal sinngemäß ausgedrückt hat. Wie Jesus. Jesus nahm die fünf Brote und die zwei Fische, er nimmt das, was da ist und schafft daraus die Fülle. Er weicht dem Leben nicht aus, sondern geht mit dem um, was ihm jeweils konkret begegnet. Auch eine Weisung aus dem Evangelium. Die Mahlzeiten sind ein wichtiger Ort der Begegnung. Sie stärken nicht nur die leiblichen Kräfte, sondern nähren auch Herz und Geist im Miteinander und durch die gegenseitige Teilhabe persönlichen Erlebens im Austausch. Und es ist eine eigene, auch buchstäblich nahrhafte Erfahrung, dann und wann auch schweigend zu essen. Ein Tagebuch mag einladen, markante Tagesmomente festzuhalten, wesentlich dabei bleibt jedoch nicht, was erlebt wird, sondern wie ich mich selbst in diesen ungewöhnlichen gewöhnlichen Abläufen erlebe. Nichts brauche ich hier in diesem Schutzraum „Kloster“ zu verstecken, nichts ungeschehen zu machen, nichts zu bemänteln. Auch nichts ans Licht zu zerren. Fragen können atmen, ohne gleich eine Antwort haben zu müssen:
„... und ich möchte Sie bitten, Geduld zu haben gegen alles Ungelöste in Ihrem Herzen und zu versuchen, die Fragen selbst lieb zu haben wie verschlossene Stuben und wie Bücher, die in einer sehr fremden Sprache geschrieben sind. Forschen Sie jetzt nicht nach den Antworten, die Ihnen nicht gegeben werden können, weil Sie sie nicht leben könnten. Und es handelt sich darum, alles zu leben. Leben Sie jetzt die Fragen. Vielleicht leben Sie dann allmählich, ohne es zu merken, eines fernen Tages in die Antwort hinein.“
(R. M. Rilke 1903 in einem Brief an Franz Xaver Kappus)

Ich mute mir zu, da sein zu lassen, was in mir hochsteigt. Dunkles und Helles. Beglückendes, aber auch Schmerzliches. Darum kann diese Zeit im Kloster auch Wüste bedeuten: ich lasse alle Ablenkung, und habe den Mut, bei mir zu bleiben, auch dann, wenn ich meiner Leere begegne, meiner Angst vielleicht, meiner Armut. Ich bleibe bei mir, bleibe in meinem Zimmer, auch wenn mich das Bedürfnis nach Flucht überfüllt, ich bleibe und halte mich aus. Ich bleibe in der Meditation, auch wenn die Stille mich austrocknet und die Gedanken mit mir davonlaufen, Ich bleibe im vorgegebenen Rhythmus, auch wenn alles erst einmal in mir ausbrechen will. Ich bleibe vor diesem Gott, halte sein Schweigen aus, seine Unbegreiflichkeit. Seine Ferne und auch seine Nähe. Und ich bleibe einen Augenblick lang bei den Menschen, die mir heute begegnen. Eine spirituelle Begleitung kann auf diesem Weg sehr hilfreich sein. Brüder und Schwestern, Nonnen und Mönche, die solche Zeiten anbieten, bleiben selber auf der Suche. Sie haben Gott nicht als Besitz. Auch ihre Aufgabe bleibt es lebenslang, alles Überflüssige von Gott abzustreifen, sein Geheimnis Geheimnis sein zu lassen, sich neu einzulassen auf sein Wort. Gott ist nie Besitz, das Leben auch nicht. Das Kloster hilft, den langen Weg vom Kopf zum Herzen unter die Füße zu nehmen, Gott nicht an einem bestimmten Ort zu suchen, sondern sich einzuüben in die Weggefährtenschaft mit ihm. Als Gast werde ich in diese Wirklichkeit der Pilgerschaft hineingenommen.
Ja - Pilgerweg ist eine solche Zeit. Kein Urlaub. Diese Zeit ist bewusst zu wählen. Bewusst auch der Ort, der der jeweiligen Lebenssituation entspricht. Und es kann eine gute Entscheidung sein, für diese besondere Form eines Aufenthaltes Handy und Laptop zu Hause zu lassen und aufmerksam zu bleiben für das, was ich während dieser Tagen lese und in mich aufnehme. Eine gute Vorbereitung auf diese Zeit ist eine wichtige Voraussetzung, um mit größerer Ruhe ankommen und in den Tagesrhythmus einsteigen zu können. Die Einfachheit des klösterlichen Lebensstiles verhilft in eine größere Schlichtheit. Äußerlichkeiten verlieren an Bedeutung. Die Zeit - ein, zwei, drei Wochen, vielleicht sogar ein halbes Jahr - ist dafür da, mit diesem Weg des Wesentlichwerdens zu beginnen, Anfänger zu bleiben. Immer wieder dieses Bleiben. Stabilitas - eine der bedeutsamen Wegweisungen aus dem Evangelium. Sie gehört zu den Evangelischen Räten, nach denen bereits hunderte von Jahren Frauen und Männer leben und sich führen lassen auf dem Weg in die wirkliche Freiheit, die Gott schenkt.
Zu diesen Weisungen gehört:
- die Armut, durch die das Leben seine Selbstverständlichkeit verliert und die uns in die Haltung der Dankbarkeit bringt. Sie holt uns weg vom Haben wollen und lässt uns unsere Geschöpflichkeit als Reichtum erfahren. Die Armut leben kann konkret bedeuten, schöpferisch mit meiner eigenen Begrenzung umzugehen und mit der jener Menschen, mit denen ich zusammenlebe. Sie bringt mich in eine Solidarität mit den Armen unserer Welt
- der Gehorsam, der den Menschen lehrt, die Stimme des Herzens zu lauschen, auf die Stimme Gottes, die hörbar wird durch Menschen und Situationen. Dieser Gehorsam ist dialogisch, frei von Willkür und Machtansprüchen: ich lausche auf das, was dem Leben dient.
- und dann die oft so falsch verstandene Jungfräulichkeit bzw. Keuschheit: eine klare und lautere Lebensgestaltung — ein Lebensausrichtung ohne Nebenabsichten und falsche Motive. Ich entdecke die Größe meiner Würde, die mir zusagt, mich nicht aus Leistung und menschlicher Beziehungen zu definieren, sondern aus der immer vorausgehenden Liebe Gottes. Es geht um das Fruchtbarwerden aus Gott. Diese Zeit im Kloster kann der Beginn sein, das Wort GOTTES wie zum ersten Mal wieder in die Hand zu nehmen, und die Ur-Kunde seiner Liebe mit in den Alltag zurückzunehmen, diese Gottesverheißung eines erfüllten und erlösten Lebens, die in jedem Menschen Wirklichkeit werden will.
Du hast mich geträumt, Gott, schöner als ich jetzt bin,
glücklicher als ich mich jetzt traue, freier als bei uns erIaubt.
Hör nicht auf
mich zu träumen, Gott,
Ich will nicht aufhören,
mich zu erinnern,
dass ich dein Baum bin,
gepflanzt an den Wasserbächen des Lebens

Dorothee Sölle

Eine Zeit im Kloster bedeutet Innehalten, Durchgehen, Aushalten, Leben teilen, Feiern. Wir brauchen solche Zeiten wie Brot und Wasser.
Und die Welt braucht sie: Menschen, die ihrer Berufung nachgehen und sie mutig leben in dieser Zeit, im je konkreten Alltag.

Sr. M. Scholastika